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 Hermann Hesse       Die Stadt   (1910)  
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Text taken from Schmoegner's edition (1977);  excerpts chosen by Bernd Rohrmann (2010)  < 
"Es geht vorwärts!" rief der Ingenieur, als auf der gestern neugelegten  
Schienenstrecke schon der zweite Eisenbahnzug voll Menschen, Kohlen,  
Werkzeugen und Lebensmitteln ankam. Die Prärie glühte leise im gelben  
Sonnenlicht, blaudunstig stand am Horizont das hohe Waldgebirge. Wilde  
Hunde und erstaunte Präriebüffel sahen zu, wie in der Einöde Arbeit und  
Getümmel anhob, wie im grünen Lande Flecken von Kohlen und von Asche  
und von Papier und von Blech entstanden. Der erste Hobel schrillte durch  
das erschrockene Land, der erste Flintenschuß donnerte auf und verrollte  
am Gebirge hin, der erste Amboß klang helltönig unter raschen  
Hammer- 
schlägen auf. Ein Haus aus Blech entstand, und am nächsten Tag eines aus  
Holz, und andere, und täglich neue, und bald auch steinerne.   
Die wilden Hunde und Büffel blieben fern, die Gegend wurde zahm und  
fruchtbar, es wehten schon im ersten Frühjahr Ebenen voll grüner  
Feldfrucht, Höfe und Ställe und Schuppen ragten daraus auf, Straßen  
schnitten durch die Wildnis. Der Bahnhof wurde fertig und eingeweiht, und  
das Regierungs-gebäude, und die Bank, mehrere kaum um Monate jüngere  
Schwesterstädte erwuchsen in der Nähe. Es kamen Arbeiter aus aller Welt,  
Bauern und Städter, es kamen Kaufleute und Advokaten, Prediger und  
Lehrer, es wurde eine Schule gegründet, drei religiöse Gemeinschaften, zwei  
Zeitungen. Im Westen wurden Erdölquellen gefunden, es kam großer  
Wohlstand in die junge Stadt. Noch ein Jahr, da gab es schon Taschendiebe,  
Zuhälter, Einbrecher, ein Warenhaus, einen Alkoholgegnerbund, einen  
Pariser Schneider, eine bayrische Bierhalle.   
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Die Stadt hatte sich zur Beherrscherin der Nachbarstädte und zur  
Hauptstadt eines großen Bezirkes erhoben. An breiten, heiteren Straßen, wo  
einst neben Aschenhaufen und Pfützen die ersten Hütten aus Brettern und  
Wellblech gestanden hatten, erhoben sich ernst und ehrwürdig Amtshäuser  
und Banken, Theater und Kirchen. Studenten gingen schlendernd zur  
Universität und Bibliothek, Krankenwagen fuhren leise zu den Kliniken, der  
Wagen eines Abgeordneten wurde bemerkt und begrüßt; in zwanzig  
gewaltigen Schulhäusern aus Stein und Eisen wurde jedes Jahr der  
Gründungstag der ruhmreichen Stadt mit Gesang und Vorträgen gefeiert.  
Die ehemalige Prärie war von Feldern, Fabriken, Dörfern bedeckt und von  
zwanzig Eisenbahnlinien durchschnitten, das Gebirge war nahegerückt und  
durch eine Bergbahn bis ins Herz der Schluchten erschlossen. Dort, oder  
fern am Meer, hatten die Reichen ihre Sommerhäuser.   
Ein Erdbeben warf, hundert Jahre nach ihrer Gründung, die Stadt bis auf  
kleine Teile zu Boden. Sie erhob sich von neuem, und alles Hölzerne ward  
nun Stein, alles Kleine groß, alles Enge weit. Der Bahnhof war der größte  
des Landes, die Börse die größte des ganzen Erdteils, Architekten und  
Künstler schmückten die verjüngte Stadt mit öffentlichen Bauten, Anlagen,  
Brunnen, Denkmälern. Im Laufe dieses neuen Jahrhunderts erwarb sich die  
Stadt den Ruf, die schönste und reichste des Landes und eine Sehens- 
würdigkeit zu sein.   
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Im folgenden Jahrhundert erreichte die Stadt den Höhepunkt ihres Glanzes,  
der sich in reicher Üppigkeit entfaltete und eilig steigerte, bis eine blutige  
Revolution der unteren Stände dem ein Ziel setzte. Der Pöbel begann damit,  
viele von den großen Erdölwerken, einige Meilen von der Stadt entfernt,  
anzuzünden, so daß ein großer Teil des Landes mit Fabriken, Höfen und  
Dörfern teils verbrannte, teils verödete. Die Stadt selbst erlebte zwar  
Gemetzel und Greuel jeder Art, blieb aber bestehen und erholte sich in  
nüchternen Jahrzehnten wieder langsam, ohne aber das frühere flotte Leben  
und Bauen je wieder zu vermögen.   
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Die schöne Stadt begann langsam zu verarmen. Sie war nicht mehr Herz  
und Gehirn einer Welt, nicht mehr Markt und Börse vieler Länder. Sie  
mußte damit zufrieden sein, sich am Leben zu erhalten und im Lärm neuer  
Zeiten nicht ganz zu erblassen. Die müßigen Kräfte, soweit sie nicht nach  
der fernen neuen Welt fortschwanden, hatten nichts mehr zu bauen und zu  
erobern und wenig mehr zu handeln und zu verdienen. Statt dessen keimte  
in dem nun alt gewordenen Kulturboden ein geistiges Leben, es gingen  
Gelehrte und Künstler von der stillwerdenden Stadt aus, Maler und Dichter.  
Die Nachkommen derer, welche einst auf dem jungen Boden die ersten  
Häuser erbaut hatten, brachten lächelnd ihre Tage in stiller, später Blüte  
geistiger Genüsse und Bestrebungen hin, sie malten die wehmütige Pracht  
alter moosiger Gärten mit verwitternden Statuen und grünen Wassern und  
sangen in zarten Versen vom fernen Getümmel der alten heldenhaften Zeit  
oder vom stillen Träumen müder Menschen in alten Palästen. Damit klangen  
der Name und Ruhm dieser Stadt noch einmal durch die Welt.   
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Nach einem Erdbeben, das indessen die Stadt selbst verschonte, war der  
Lauf des Flusses verschoben und ein Teil des verödeten Landes zu Sumpf,  
ein anderer dürr geworden. Und von den Bergen her, wo die Reste uralter  
Steinbrücken und Landhäuser zerbröckelten, stieg der Wald, der alte Wald,  
langsam herab. Er sah die weite Gegend öde liegen und zog langsam ein  
Stück nach dem andern in seinen grünen Kreis, überflog hier einen Sumpf  
mit flüsterndem Grün, dort ein Steingeröll mit jungem, zähem Nadelholz. In  
der Stadt hausten am Ende keine Bürger mehr, nur noch Gesindel,  
unholdes, wildes Volk, das in den schiefen, einsinkenden Palästen der  
Vorzeit Obdach nahm und in den ehemaligen Gärten und Straßen seine  
mageren Ziegen weidete. Auch diese letzte Bevölkerung starb allmählich in  
Krankheiten und Blödsinn aus, die ganze Landschaft war seit der  
Versumpfung von Fieber heimgesucht und der Verlassenheit anheimgefallen.  
Die Reste des alten Rathauses, das einst der Stolz seiner Zeit gewesen war,  
standen noch immer sehr hoch und mächtig, in Liedern aller Sprachen  
besungen und ein Herd unzähliger Sagen der Nachbarvölker, deren Städte  
auch längst verwahrlost waren und deren Kultur entartete.   
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Der Wald rückte vor und ergriff und verhüllte langsam das ganze Land, die  
Reste der alten Straßenmauern, der Paläste, Tempel, Museen, und Fuchs  
und Marder, Wolf und Bär bevölkerten die Einöde.   
"Es geht vorwärts!" rief ein Specht, der am Stamme hämmerte, und sah den  
wachsenden Wald und den herrlichen, grünenden Fortschritt auf Erden  
zufrieden an.  
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